Die Pandemie hält uns leider derzeit voll im Griff. Es wird gestritten über die Einflussfaktoren, die die Ausbreitung des Coronavirus begünstigen:

Sind die Schulen sicher? Inwieweit überträgt sich das Virus in geschlossenen Räumen, Fitnessstudios oder Kneipen?

Die Wissenschaft versucht mangelnde Evidenz für bestimmte Formen der Ausbreitung zu finden. Fehlt diese Evidenz, wird oft argumentiert: „Es gibt keine Evidenz für XYZ, deswegen ist XYZ nach derzeitigem Wissen sicher.“

Dieses Argument fiel besonders oft bei den Schulen. Die Vorsitzenden des Verbands der Kinderärzte (Die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin e.V.) haben oft auf  Twitter betont, dass es keine Evidenz für Covid-Übertragung an den Schulen gebe und aus diesem Grund der Regelbetrieb sicher sei.

Ist diese Argumentation zutreffend?

Nein, denn „absence of evidence“ bedeutet nicht das Gleiche wie „evidence of absence“. Es ist ein logischer Fehler die Abwesenheit von Nachweisen als die Abwesenheit des Tatbestandes zu deklarieren.

Was auf den ersten Blick verwirrend klingt, lässt sich einfach an einigen dunklen Beispielen der Innovations- und Medizingeschichte leicht erkennen.

Ignaz Semmelweis und der fehlende Beweis der Mikroben

Ein tragisches Symbol für diese Problematik stellt der ungarische Arzt Ignaz Semmelweis dar.

Während seiner Tätigkeit als Arzt hat Semmelweis als einer der Ersten erkannt, dass das sogenannte Kindbettfieber eine konkrete Ursache haben könnte – und zwar mangelnde Hygiene in den Krankenhäusern.

Zur damaligen Zeit war es offenbar üblich, dass Ärzte (nachdem sie beispielsweise Leichen obduziert hatten), ohne die Hände zu desinfizieren im Anschluss z.B. gebärende Frauen behandelt haben. Als Folge starben viele dieser Frauen am sogenannten Kindbettfieber. Man sah zwar die Häufung dieser Fälle, jedoch waren die Ursachen damals unbekannt.

Semmelweis hatte die Vermutung, dass die hohe Sterblichkeit mit der Hygiene im Krankenhaus zu tun haben könnte und führte verbindliches Händewaschen mit Chlorkalk ein. Als Folge sank die Sterblichkeit im Krankenhaus massiv. Semmelweis machte seine Ergebnisse publik in der Hoffnung, dass dies auch in anderen Krankenhäusern eingeführt werden würde.

Leider wurden Semmelweis Einwände durch die Mediziner-Community nicht anerkannt. Vielen Ärzten war offenbar die von Semmelweis erbrachte Evidenz nicht gut genug. Eine Verbesserung der Überlebensrate der Wöchnerinnen reichte offenbar der damaligen Ärzteschaft nicht aus. Die Existenz von Mikroben wurde gerade erst entdeckt.

Am Ende des Tages mussten noch viele Menschen ihr Leben verlieren, bevor die Krankenhaushygiene als wichtiges Mittel der Krankheitsbekämpfung anerkannt wurde.

Radioaktive Zahncreme macht die Zähne strahlend weiß!

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Als die Radioaktivität und ihre Eigenschaften entdeckt wurden, war auch die Begeisterung für diese neue Technologie groß. Die Menschen fingen unter anderem an, aus Radiumwasser diverse Produkte herzustellen. Bedenken wegen potentieller Nebenwirkungen gab es offenbar nicht, denn … es gab keine Evidenz, dass beispielsweise radioaktive Zahnpasta außer schönen Zähnen langfristig etwas Böses bewirken könnte.

Diese Kurzsichtigkeit und Nichtbeachtung des Vorsichtsprinzips resultierte in gesundheitlichen Schäden für die Bevölkerung. Viele Frauen litten nach der Anwendung u.a. an Entzündungen im Gesicht.

Besonders negative Effekte hatte das Trinken von Energy Drinks mit Radium als Bestandteil, welches dann zum Tod des größten Befürworters dieses Drinks, Eben Byers, führte: „The radium water worked fine until his jaw came off.“ schrieb das Wall Street Journal in 1932 (Quelle: CNN).

Radium Girls

Eine der bekannsten Folgen des sorglosen Umgangs mit Radioaktivität haben die sogenannten Radium Girls zu spüren bekomen. Sie arbeiteten in Uhren-Fabriken und bemalten die Ziffernblätter der Uhren mit radioaktiver Farbe. Langfristig bezahlten viele dieser Frauen diese Tätigkeit mit ihrer Gesundheit und sogar ihrem Leben. Der Spiegel schrieb einen interessanten Artikel zu den Radium Girls.

Esstisch aus Asbest ist ganz schön praktisch!

„Es gibt keine Evidenz, dass Asbest schädlich ist!“ konnte man noch in den 30er Jahren beruhigt rufen. Ähnlich wie radioaktive Kosmetika gab es auch hier lange „keine Evidenz“, dass Asbest womöglich nicht so vorteilhaft für die Gesundheit ist. Anstelle das Vorsichtsprinzips („absence of evidence“ ist keine „evidence of absence“) walten zu lassen, wurden großzügig Asbestmaterialien in unser Leben eingeführt. Auch hier bezahlten diese Großzügigkeit viele Menschen mit ihrem Leben. Asbestfasern gelangen in die Lunge und können als Langzeitschaden Lungenkrebs verursachen. Ähnlich wie im Fall der Radium Girls waren die Arbeiter in Asbestfabriken besonders betroffen.

So müssen auch Eternit-Dächer – ein Asbest-Werkstoff – bis heute mit großem Aufwand entfernt werden. Bis heute haben wir mit der Umweltverschmutzung durch Asbest zu kämpfen. Die Welt schreibt:

„Doch laut Experten wurde der gefährliche Stoff zwischen 1960 und 1990 in mehr als 3000 Produkten eingesetzt. Etwa 70 Prozent des Asbests gelangten als Asbestzement in die Häuser.“

Die Asbestentfernung ist auch mit erheblichen finanziellen Kosten (Entsorgung als Sondermüll, hohe Auflagen für die Baustellensicherheit) verbunden und wird uns noch auf Jahre beschäftigen.

Ist die Situation heute besser?

Man könnte meinen, all diese Erfahrungen hätten uns das Prinzp der Vorsicht näher gebracht. Heute wissen wir, dass beispielsweise, bevor man einen neuen Stoff in die Umwelt einführt, großzügige Studien erfolgen sollten, die die Unschädlichkeit des Materials nachweisen.

Leider ist das nicht immer der Fall. Das beste Beispiel dafür ist die Einführung von Stoffen, die auf Nanotechnologie basieren. Am Ende des Tages wissen wir noch nicht (ähnlich wie beim Asbest), ob und inwieweit manche dieser Stoffe unsere Umwelt und Gesundheit belasten. So schreibt die Stiftung Warentest:

„Auch aus Nahrungs­mitteln können Nano­partikel vom Magen-Darm-Trakt ins Blut- und Lymph­system übergehen und sich im Organismus verteilen. Die Risiken, die sich daraus ergeben, sind aber noch unklar.“

Ohne ausreichende Evidenz für die Nichtschädlichkeit hat Nanotechnologie das Potenzial das Asbest von morgen zu werden. Wir wissen es einfach noch nicht.

Das Nicht-Anwenden des Vorsichtsprinzips kann auch sehr oft derzeit in der Pandemiebekämpfung beobachtet werden. Das beste Beispiel lieferten die Vorsitzenden des Kinderärzteverbands. Anstelle die Hypothese Null aufzustellen „alle sind gleich ansteckend, bis das Gegenteil bewiesen wird“, wird das Ungekehrte gefordert: es gibt keine Evidenz, dass Kinder ansteckend sind – also wurde Druck gemacht und die Öffnung der Schulen ohne Hygienerichtlinien gefördert. Jetzt steigen die Fallzahlen in den Schulen.

Leider wird uns die Missachtung des Vorsichtsprinzips immer wieder auf die Füße fallen. Es wäre daher empfehlenswert, wenn wir als Gesellschaft Vorsichtsmechanismen gegen solche Fehlgriffe entwickeln würden. Vielleicht könnte die Gesetzgebung im Sinne des Vorsichtsprinzips angepasst werden, denn eins ist klar: die Fehlfgriffe von heute sind die Kosten von morgen.

Quellen und Lizenzen für die Bilder:

Titelbild: Wikipedia Benutzer Suit (https://de.wikipedia.org/wiki/Doramad#/media/Datei:Doramad_Advertisement.jpg) (Creative Commons Lizenz https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/)

Semmelweis: Wikipedia (creative commons licence)

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