Im Gegensatz zu dem, was man in den Medien häufig hört, hatten die Menschen in der Steinzeit (nachdem sie ihre Kindheit überstanden haben) eine Lebenserwartung von etwa 75 Jahren (Kaplan und Gurven 2007 Studie). Nicht schlecht, würde ich mal sagen.

Die Lebenserwartung von 30 Jahren, die häufig für die Steinzeit angeführt wird, kommt nur zustande, wenn man auch die hohe Kindessterblichkeit mit einbezieht. Wenn allerdings ein Mann/eine Frau in der Steinzeit die frühe Kindheit hinter sich gelassen hat, blickte er/sie offenbar auf eine Lebenserwartung von 75 Jahren.

Klar ist Säuglingssterblichkeit nicht etwas, das man einfach so unter den Tisch kehren kann, wenn man über die Zustände der damaligen Zeit schreibt. Allerdings verdeutlicht dieser Zusammenhang eben, wie problematisch die Lebenserwartung als statistische Größe und Orientierungswert für uns ist.

Die Vermutung liegt nahe, dass auch in den anderen Epochen die Lebenserwartung doch nicht so niedrig war, sondern durch die hohe Kindersterblichkeit einfach sehr weit nach unten gedrückt wurde.

Lebenserwartung ist nicht Sterblichkeit

Hier kommen wir auf das eigentliche Thema und zwar die Lebenserwartungsstatistiken. Wie das obige Beispiel verdeutlicht, sind sie sehr trügerisch, denn in ihrer Berechnung wird der Kindersterblichkeit viel größere Bedeutung zugemessen, als der Sterblichkeit in dem Erwachsenenalter.

Die Meisten wissen auch nicht, dass die Lebenserwartung nur ein Schätzwert ist, der zwar auf realen Daten basiert, aber eben nicht unbedingt das widerspiegelt, was die Menschen sich davon erhoffen, nämlich die persönliche Lebenserwartung.

Die Lebenserwartung wird auf der Basis von Mortalitätsdaten berechnet. Die Mortalitätsdaten spiegeln viel mehr die reale Situation im Hinblick auf die Lebenserwartung. Sie schwanken aber sehr stark. Es kann also sein, dass z.B. im Land A viel mehr Menschen in ihrem 30. bis 50. Lebensjahr sterben, aber die Lebenserwartung im Land A trotzdem stabil bleibt oder sogar wächst. Dies passiert, wenn man die Lebenserwartung bei Geburt angibt, die eben sehr stark die Säuglingssterblichkeit miteinbezieht.

Ein Beispiel für diese Verzerrung bieten die USA. Dort ist die Sterblichkeit des weißen Teils der Bevölkerung seit dem Jahr 1999 stark angestiegen. Trotzdem ist diese Tatsache über Jahre hinweg unbemerkt geblieben, da sie eben sehr geringen Einfluss auf die allgemeine Lebenserwartung bei Geburt hatte. Diese Entwicklung haben Angus Deaton und Anne Case entdeckt. Zunächst wurden Deaton und Case für ihre Befunde stark angefeindet und kritisiert, da sie eben u.a. keinen Einfluss auf die Lebenserwartungsstatistiken hatten. Viele wollten deswegen nicht an den starke Anstieg der Sterblichkeit glauben.

Der merkliche Anstieg der Sterblichkeit bei Erwachsenen ist erst seit dem Jahr 2015 in den Lebenserwartungsstatistiken zu sehen. Seitdem sinkt die Lebenserwartung in den USA wieder (siehe z.B. diese Nachricht von Bloomberg News).

Wird ein ähnlicher Prozess auch in Deutschland einsetzen?

Interessanterweise fängt offenbar die Lebenserwartung auch für Deutschland an zu sinken. Hier ein Link zu der entsprechenden Nachricht. Auch sinkt offenbar die Lebenserwartung in den anderen Industrieländern: hier ein Artikel in der Süddeutschen Zeitung zu diesem Thema.

Daraus folgt, dass man die Lebenserwartungsstatistiken mit großer Vorsicht genießen sollte. Wenn man wissen möchte, wie die persönliche Lebenserwartung aussieht, behält man lieber die Sterblichkeitsraten für den jeweiligen Jahrgang im Blick und nicht die Lebenserwartungsstatitsiken. Dort werden nämlich die wahren Verhältnisse deutlich.

Da in Deutschland immer mehr Menschen chronisch erkrankt sind (vor allem Kinder), gehe ich stark davon aus, dass die Lebenserwartung in Deutschland noch weiter sinken wird. Vielleicht werden wir uns bald an die Steinzeitverhältnisse anpassen…

Quellen und Links in diesem Artikel:

Michael Gurven & Hillard Kaplan (2007): Longevity Among Hunter‐ Gatherers: A Cross‐Cultural Examination

Angus Deaton & Anne Case (2015): Rising morbidity and mortality in midlife among white non-Hispanic Americans in the 21st century

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